Yiquan

 

 

"Das Gewöhnliche ist das Ungewöhnliche" 

Wang Xiangzhai

 

Wörtlich übersetzt bedeutet Yiquan (sprich: I-Chüän) "Geist-Boxen". Yiquan ist gleichermaßen eine innere Kampfkunst, eine Richtung des Qigong, sowie ein äußerst effizientes System zur Pflege der vitalen Kräfte und des Chan (Zen).

Seit seiner Entwicklung versteht sich Yiquan als Methode einer kontinuierlichen Kultivierung und des Trainings durch Entfaltung der natürlichen instinktiven Fähigkeiten des menschlichen Körpers und seiner mentalen Fähigkeiten. Diese natürlichen instinktiven Fähigkeiten sind die höchste Reflexion unseres ursprünglichen Geistes und bringen dessen potenzielle körperlichen und mentalen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung. Kurz gesagt ist Yiquan das Streben nach einem gesunden Körper und Geist.

Viele körperliche und geistige Übungssysteme verschiedenster Kulturen erheben auch heute noch den selben Anspruch. Die Entstehung der fernöstlichen Gesundheits- und Kampfkünste verliert sich jedoch im Dunkel vergangener Jahrtausende und dadurch auch deren Kern. Viele Übungsformen zur Kultivierung der Inneren Kraft, der Vitalität und des menschlichen Geistes haben sich, ausgehend von ihrer gemeinsamen Wurzel, in unzählige Äste verzweigt. Viele der alten Geheimnisse wurden über die ehrenwerten Ahnenlinien in unsere heutige Zeit übertragen, andere wiederum gingen in zerbrochenen Ahnenlinien verloren. Die Perlen dieser Künste sind heute meist in vielen Systemen verborgen und müssen durch Entwicklung eines tiefen Verständnisses der facettenreichen Systeme und der zugrundeliegenden Grundprinzipien mühsam zusammengetragen werden. Durch Verluste bei der Übertragung von einer Generation auf die nachfolgende und eines geminderten Anspruches sind viele der fernöstlichen Künste zu reinen Tanzformen degeneriert und das nicht nur im Westen, meist mit dem Fokus auf äußerlich anmutig erscheinende Bewegungsabläufe und Routinen, geschmückt mit mystischen Konzepten und Begriffen.
Wang Xiangzhai (1885-1963), der Begründer des Yiquan, war seinerzeit ein berühmter Meister der Kampfkunst, des Qigong und der chinesischen Heilkunst. Seine Kampfkunstfähigkeiten wurden legendär. Er widmete sein Leben der Suche nach der Essenz der inneren Kampfkünste (Neijiaquan) und der Systematisierung ihrer Prinzipien. Wang erkannte, dass sogar in den Kampfkünsten zu großer Wert auf körperliche Bewegungsabfolgen gelegt wurde und die inneren Prinzipien des Aufbaus der inneren Kraft kaum noch Beachtung fanden. Er war der tiefen Überzeugung, dass alles Wissen einem jeden Menschen zugänglich sein müsse und es keine Geheimnisse geben sollte, die nur wenigen "Auserwählten" offenbart werden. Er enthüllte aus dieser Überzeugung heraus die Kernprinzipien und speziellen Übungsformen der Inneren Kampf- und der Gesundheitskünste, welche die Meister seit Jahrtausenden in intimen Ahnenlinien nur an auserwählte Meisterschüler weitergaben und machte sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Meister Wang betonte stets, dass die rechte Kampfkunst zurück an die Wurzeln der Kultivierung dieses menschlichen Lebenspotenzials gehen sollte. In seinem inneren Aspekt vereint Yiquan in sich die Essenz der drei inneren chinesischen Kampfkünste Taijiquan, Xingyiquan und Baguazhuang: die Schulung des Geistes und den Aufbau der inneren Kraft. Vom Xing Yi Quan übernahm Meister Wang im Wesentlichen die Mechanismen der inneren Kraft, im äußeren Aspekt die Körperhaltung und Struktur. Vom Taijiquan entlehnte er u.a. die Fähigkeiten des Attackierens, des am Gegner "Klebens", die Fähigkeit Kraft aufzunehmen und diese zu transformieren, die "hörenden" Hände und die Fähigkeit, sich den Bewegungen des Gegners harmonisch anpassen zu können. Aus dem Baguazhuang stammen beispielsweise die fließenden Schritttechniken, welche die Wahrnehmungsfähigkeit der unteren Gliedmaßen und die Dynamik der Beinarbeit entwickeln. Die meditativen Aspekte des Chan (Zen), die Übungen zur Kultivierung des Chi und des Aufbaus der inneren Kraft bilden den Kern des Yiquan. Dadurch wurden uralte Trainingsprinzipien wieder in einen systematischen Zusammenhang gebracht und können heute jedes andere System, sei es aus dem Bereich der Kampfkunst, der Gesundheitspflege oder einer jeden Sportart, in seiner Effizienz nachhaltig verbessern. Die Essenz der drei inneren Kampfkünste besteht jedoch keinesfalls aus einer Mischung von einzelnen Figuren, Bewegungen oder Prinzipien. Durch sein Studium und Forschen hat Wang vielmehr den Kern der inneren Kampfkunst an sich interpretiert.
Die Übungen des Yiquan sind dabei äußerst einfach und klar. Für den Betrachter ähneln die Übungen sehr stark diversen Formen des Qigong und Taiji, sind jedoch leichter zu erlernen, wie bspw. das Taiji. Aber eben in ihrer Einfachheit und Klarheit liegt ihre enorme Wirkkraft oder wie Meister Wang es formulierte: "Das Gewöhnlichste ist das Ungewöhnlichste". Im Yiquan spielt die Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit eine übergeordnete Rolle. Ein stabiler Gesundheitszustand ist die Basis für ein erfülltes Wirken in- und außerhalb der Kampfkünste. Die Übungen können im Stehen, Gehen, Sitzen und Liegen ausgeführt werden. Sie lassen sich darüber hinaus sehr leicht in den Alltag integrieren und benötigen keinen speziellen Übungsraum. Der wesentlichste Aspekt im Yiquan-Training ist die Schulung und Kultivierung des Geistes sowie der "inneren Kraft". Dies entwickelt einen Zustand tiefgehender Ruhe und Entspannung sowie starker Vitalität und ermöglicht es bspw. in der Kampfkunstanwendung, unmittelbar, kraftvoll und spontan zu handeln, ohne dabei auf einstudierte Techniken angewiesen zu sein. Dabei verzichtet Yiquan auf alle überflüssigen, d.h. nicht auf den Aufbau der inneren Kraft gerichteten Übungen. Dadurch unterscheidet es sich fundamental vom gewöhnlichen Muskel- bzw. Krafttraining. Durch die nunmehr fast 80 jährige Praxis hat sich gezeigt, dass das System sowohl eine starke positive Wirkung auf die Gesundheit wie auch auf die Kampfkunstfähigkeiten (Gongfu) ausübt. Aufgrund der außergewöhnlichen Fähigkeiten der Yiquan-Praktizierenden in Bezug auf ihr Gongfu nannten einige besonders euphorische Schüler von Wang Xiangzhai, allerdings gegen seinen Willen, dessen Kunst "Dachengquan" (Kampfkunst der großen Vollendung). Auch heute noch findet dieser Name häufige Verwendung.
Innerhalb der traditionellen chinesischen Kampfkünste stellt Yiquan eine grundlegende Reform dar. Die Bewegungsökonomie wurde hier auf ihre höchste Stufe gebracht. Der Yiquan-Praktizierende kann sich mit wenigen Bewegungen, jedoch mit Schnelligkeit, Koordination und Geschick gegen eine Vielzahl von Angriffen verteidigen. Yiquan wurde von Meister Wang in jahrelangen Studien der inneren Chinesischen Kampfkünste vor dem Hintergrund moderner physiologischer und biomechanischer Erkenntnisse entwickelt. Obwohl die Bewegungen äußerlich anmutig und eher gemütlich erscheinen, sind sie sehr effizient, einfach zu koordinieren und können blitzschnell, explosionsartig angewendet werden, mit erstaunlicher Präzision und Sicherheit. Für einen Gegner sind sie nahezu unberechenbar. Meisterhafte Yiquan-Bewegungen können einen Gegner mit einer ihm in seinen Wahrnehmungsfähigkeiten unvertrauten Dynamik konfrontieren, so dass er völlig desorientiert wird, sein Zentrum verliert und nicht mehr finden kann. Folglich bleiben alle seine Aktionen unwirksam. Yiquan reiht sich damit unter die schnellsten Kampfsysteme ein.

In der heutigen Zeit werden aus unserem sozialen Umfeld von vielen Seiten Anforderungen an uns gestellt und Rollenbilder definiert, denen wir so weit wie möglich entsprechen möchten, um unsere soziale Eingebundenheit und den daraus resultierenden seelischen Halt nicht zu verlieren. Oft ist die Folge Stress und psychischer (Leistungs-)Druck, Angstgefühle und Depressionen. Beschleunigte Lebensumstände zehren dabei ebenfalls an unseren körperlichen und psychischen Ressourcen. Wie negativ sich stressbedingte Krankheiten und Angstgefühle auf unser Immunsystem und dadurch auf unsere Gesundheit im ganzheitlichen Sinne auswirken, wird in jüngsten wissenschaftlichen Studien bestätigt. Yiquan stellt nur sehr geringe Anforderungen an den Praktizierenden, kennt keinen Leistungsdruck. Dadurch ist es eine Möglichkeit, sich selbst zu "entschleunigen", seine Wesensmitte wieder zu entdecken und dadurch körperliche und geistige Kraft zu tanken. Ein bewusstes, entspanntes und trotzdem ein auf unsere täglichen Aufgaben fokussiertes Handeln bereichert unser Wirken in vielen Lebenslagen. Stück für Stück befreien wir dadurch unseren grenzenlosen, lebendigen Geist von selbstauferlegten Zwängen, Verhaltensmustern und Selbsteinschränkungen. Plötzlich entwickeln wir eine andere Sicht der Dinge. Dies kann als Kultivierung des menschlichen Lebenspotenzials verstanden werden. Die Übungen helfen uns, vom ständigen Aktionismus in die Stille, vom Denken wieder zum Fühlen und von der Anspannung wieder zurück zur Entspannung zu kommen.
Yiquan ist demnach keine Ansammlung von Boxroutinen, Kampftechniken, Meditationstechniken, fixierten Bewegungsabläufen und Körperstellungen. Es ist auch keine philosophische Denkschule, keine religiöse Stilrichtung, Gemeinschaft oder Organisation, keine medizinische Therapieform, weder im körperlichen noch im psychischen Bereich. Es ist ein Prozess des Wiedererlangens von uns allen angeborenen Fähigkeiten. Diese haben wir durch die Urbanisierung unserer Gesellschaft und der minimalisierten Bewegungsmuster unseres Alltags verlernt. In der bewegungsarmen Umgebung, in der sich die meisten zivilisierten Gesellschaften täglich bewegen, werden die benötigten Stimuli nicht mehr angetroffen. Es entstehen Stimulationslücken, die wir künstlich versuchen aufzufüllen. Die meisten Freizeitsportarten sind jedoch auch hier viel zu einseitig. Wird Bewegungsmangel oder gar Fehlhaltungen und falsch erlernte Bewegungsmuster zum Dauerzustand, verlernt der menschliche Körper mit der Zeit, sich effizient zu bewegen. Die Trainingsmethoden des Yiquan sind gezielt auf die Funktionen des Körpers ausgerichtet, die in unserem Alltag zu wenig oder gar fehlbelastet werden. Man kann sie deshalb als Lernprogramme der gesamten neuro-muskulären Funktionen unseres Bewegungsapparates verstanden werden, für den Motokortex im Gehirn, Muskeln, Nerven, Gelenke und deren Zusammenspiel.
Yiquan beurteilt Kampfkunstfähigkeiten nicht nach dem Kriterium Sieg oder Niederlage, denn diese sind rein temporär und nur eine Momentaufnahme. Der Weltmeistertitel im Boxschwergewicht sagt nur etwas über die momentanen Fähigkeiten des Champions aus. Mit zunehmendem Alter wird er seine Fähigkeiten verlieren und ein anderer, jüngerer Boxer seinen Platz einnehmen. In den inneren Kampfkünsten generell nehmen die Fähigkeiten mit zunehmendem Alter nicht ab, im Gegenteil, sie nehmen ständig zu. Es geht um die Prinzipien der Effizienz von Fähigkeiten in allen Lebensbereichen. Yiquan ist, so verstanden, das Studium des Lebens und seiner Prinzipien bzw. Gesetzmäßigkeiten. Für nicht an der Kampfkunst Interessierte bietet es die Freiheit, sich lediglich mit den Gesundheitsaspekten auseinander zu setzen.

 

 

 

 

Was bewirkt Yiquan

 

Beim Yiquan liegt der Schwerpunkt auf dem Yi - der Vorstellungskraft. Was im Taiji-Unterricht stets betont wird, "mit Vorstellung, ohne körperliche Kraft" zu üben, wird hierdurch leichter verständlich: "Yi ist Kraft". Man lernt eine sehr direkte Methode, um die innere Kraft zu spüren und zu steuern. Während seiner Lehrjahre erfuhr Wang Xiangzhai, dass viele heilgymnastische Übungen wie das Taiji und die meisten Qigong-Stile durch die Stilisierung und Systematisierung über Generationen hinweg immer mehr an Wirksamkeit verlieren würden, sowohl zur geistigen, therapeutischen und kampftechnischen Entfaltung. Er erkannte, dass sich seine Schüler aus diesen Gründen viel zu sehr auf die äußeren Bewegungsabläufe und Positionen konzentrierten, anstatt die Kernelemente der inneren Kampfkunst zu trainieren. In den meisten Taiji-Schulen steht die Korrektheit der Formausübung im Vordergrund des Trainings und ist heute Gegenstand von Wettbewerben. Ohne einzig und allein eine typische Bewegungsabfolge (wie im Taiji) oder Daolu bzw. Kata (wie in den meisten äußeren Kampfkünsten) wiederholt zu üben ließen aus Xingyiquan (Kampfkunst der Form aus Konzentration) Yiquan (Keine äußere Form im Sinne einer festgelegten Bewegungsabfolge, sondern Betonung der Konzentrationsarbeit) werden.

Die Übungen des Yiquan reichern das Qi an. Im Gegensatz zu äußeren Kampfkünsten oder westlichen Sportarten stellt hier der Geist keine übermäßigen Anforderungen an den Körper, sich durch den erzwungenen wiederholten Leistungszwang zu verausgaben. Die Übungen sind fließend, sanft und harmonisch und erfordern ein Minimum an körperlicher Anstrengung, stellen jedoch gewisse mentale Anforderungen an die Vorstellungskraft des Übenden. Der Geist bzw. die Vorstellungskraft arbeitet dabei mehr, der Körper durch die völlige Entspannung weniger. Es entsteht eine Form von überschüssiger Energie im Körper. Viele Leistungssportler trainieren ihre Bewegungsabläufe auch mental, jedoch vor der körperlichen Ausführung. In der Systematik des Yiquan erfolgt die geistige Tätigkeit während der harmonischen Bewegungen. Das auf geistiger/psychischer Ebene durch die Vorstellungskraft gewonnene Kraftpotenzial wird dadurch in die körperlichen Bewegungen integriert und dadurch die Einheit von Körper und Geist hergestellt. Auf diesem Weg werden Gesundheit und Kampfkunst gleichermaßen gepflegt. Ohne den Einsatz eines gewissen Maßes an muskulärer Kraft bleibt Yi allerdings nur eine Phantasieübung des Geistes, vergleichbar mit dem Träumen. Dies wäre eine Fehlinterpretation der klassischen Texte und führt ebenso wie das Gegenteil, d.h. übermäßiger Gebrauch reiner Muskelkraft, zu keinen brauchbaren Ergebnissen. Die Übungen sind eine hervorragende Ergänzung zum Training des Taijiquan. Sie bilden eine ideale Basis für das Training der Taiji-Form und wirken besonders auf der Ebene der Taiji-Partnerübungen. Auch viele andere Sportarten können von der Wirkung des Yiquan entscheidend profitieren. Laut chinesischen Studien können die Übungen den Krankheitsverlauf vieler auch bereits chronischer Krankheiten positiv beeinflussen. Der Kreislauf wird reguliert und das Immunsystem gestärkt. Eine stehende Position für eine gewisse Zeit zu halten stellt ein Fundament dar, von dem aus fließende Bewegungen von einem Punkt oder Zentrum ausgehend beginnen können. Auf diese Weise entstehen keine Unsicherheiten, weder in der äußeren Form noch im Bewusstsein, da man von der bewegungslosen Ruhe in die Bewegung übergeht. Zhang Zhuang sollte nicht nur solange geübt werden, bis man geschmeidig und ohne Anstrengung stehen kann. Das Üben des Zhang Zhuang hilft, das Fließen des Qi und den Blutstrom im Körper zu regulieren und zu normalisieren. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass verschiedene Körpertypen zu bestimmten Stärken und Schwächen neigen. Hier kann Zhang Zhuang helfen, individuelle Defizite zu überwinden, die sich in späteren Entwicklungsstufen des Übens als hinderlich erweisen würden.

Die im Yiquan praktizierten Vorstellungsübungen beziehen sich auf das Nervensystem und stärken unsere Geisteskraft. Zusammen mit sanften körperlichen Bewegungen ausgeführt entsteht ein isometrisches Training unter höchstmöglicher Entspannung des Körpers.
In seinem Kampfkunstaspekt hilft uns Yiquan, die Fähigkeit zur explosiven Kraftentfaltung zu entwickeln. Durch seine positiven Auswirkungen auf das Nervensystem steigt die Reaktionsfähigkeit beachtlich. Plötzlichen Krafteinwirkungen auf den Körper, z.B. durch einen Gegner kann adäquat und auf instinktive Weise begegnet werden. Das gesamte Nervensystem wird gestärkt und die Fähigkeit der sensiblen Körperwahrnehmung entwickelt. Der Körper lernt, spontan zu reagieren. Yiquan nutzt somit die dem Körper innewohnenden Selbstverteidigungsfähigkeiten. Auf Techniken wird weitgehend verzichtet Voraussetzung hierfür ist es, während des Übens übertriebenen Enthusiasmus oder starke Emotionen auszuschalten. Emotionen trüben unser Bewusstsein und verhindern subtileres inneres Wahrnehmen. Wir sind es gewohnt, unsere Haltung von Gefühlen und Willenskraft leiten zu lassen. Yiquan sucht die Abhängigkeit von durch den Willen gesteuerte Kraft auszuschalten bzw. zu entkoppeln.

Yiquan ist eine Zusammenfassung von Übungsprinzipien für die Entwicklung der inneren Kraft. Die Übungen haben eine unmittelbare Wirkung auf das energetische Befinden des Übenden, seine Beweglichkeit und körperliche Kraft werden ohne Verausgabung trainiert. Es stellt sich schon nach relativ kurzer Übungszeit ein Gefühl der Ausgeglichenheit und eine größere Gelassenheit gegenüber den Anforderung des täglichen Lebens ein. Der Übende fühlt sich in seinem Wesen stärker verwurzelt. Körperliche Kraft und körperliche Entspannung entwickeln sich Hand in Hand. Der Übende entwickelt eine sanfte Kraft, die sich von reiner Muskelkraft völlig unterscheidet. Diese Übungsprinzipien liegen allen inneren Kampfkünsten zu Grunde. Vielerorts, auch in China, werden diese Prinzipien zu Gunsten dem Erlernen von Formen und Bewegungsabläufen vernachlässigt. Sie sollten jedoch integraler Bestandteil eines jeden Taiji- bzw. Qigong-Trainings sein, um wieder an die Wurzeln dieser Künste zurückzukehren, bevor deren Schönheit in ihrem ganzheitlichen Umfang in Vergessenheit gerät.

Die moderne Betrachtungsweise
Alle Bewegungserscheinungen sind Muskelbewegung und die Muskelbewegungen werden vom Zentralnervensystem kontrolliert und gesteuert. Durch effektives Training kann man ca. 50% - 70% der Muskelleistung freisetzen und entwickeln. Das verbleibende Potenzial kann man nur mit Hilfe der mentalen Vorstellungskraft erwerben. Mit dem mentalen Training kann man demnach den nicht genutzten Rest der Muskulatur zusätzlich entwickeln. Die Übungen des Yiquan bewirken, das dass im Gehirn gelegene Bewegungszentrum (motorisches Zentrum, bzw. der Motokortex) trainiert wird, indem die jeweiligen Muskeln, in einigen Übungen sogar isoliert von anderen Muskelgruppen, von hier aus längere Zeit kontrahiert werden. Dies geschieht durch den bewussten Einsatz von Yi, also der Intention, Absicht, Aufmerksamkeit oder Vorstellungskraft. Hierdurch wird speziell das Signalverarbeitungssystem des Zentralnervensystems trainiert. Dieses besteht aus entsprechenden Nervenzellen von Gehirn, Rückenmark und Muskeln. Im Gegensatz zum westlichen Krafttraining und Bodybuilding wird hier nicht die Anzahl und Dicke der Muskelfasern erhöht sondern Funktion und Anzahl, also die Quantität und vor allem die Qualität der Synapsenverschaltungen und der Nervenendplatten. Dadurch wird die Informationsübertragung deutlich verbessert. Durch die schnellere Signalverarbeitung, verbesserte Reflexe werden bei einer Entspannung, wie auch bei einer Anspannung eines Muskels mehr Muskelfasern einbezogen und die Leistungskapazität des Muskels wird besser ausgelastet und es kann mehr Kraft in einer kürzeren zeitlichen Spanne freigesetzt werden.

Ein weiterer Effekt des Yiquan-Trainings ist die Art der beanspruchten Muskelfasern. Stark vereinfachend können die Muskelfaser(gruppen) danach unterschieden werden ob sie für die Bewegungsausführung verantwortlich sind oder ob sie eher der Aufrechterhaltung unserer Körperstruktur gegen die Schwerkraft dienen. Diese Unterteilung ist natürlich rein künstlich, dient jedoch zu Anschauungszwecken. Die für die Bewegungsausführung zuständigen Muskelfasern nennen wir zu diesem Zweck "Mobilisatoren" und die für die Stabilität verantwortlichen Muskelfasern können als "Stabilisatoren" bezeichnet werden. Sie beinhalten die "gelenkstabilisierenden Muskeln" und die "Kernhaltemuskulatur". Die für unsere Bewegungen verantwortlichen Mobilisatoren haben die Eigenschaft, sich schnell zu verausgaben, während die Stabilisatoren eine deutlich höhere Kondition bzw. Ausdauer besitzen.

Während der Zhang Zhuang Übungen lernt man durch das bewegungslose Stehen, die Stabilisatoren einzusetzen. Man geht dabei über den Punkt der Leistungsfähigkeit der Mobilisatoren hinaus, bis diese die Stabilisatoren "zu Hilfe rufen". Anfänger erleben dies als heftiges Muskelzittern und Schütteln des ganzen Körpers. Mit fortschreitendem Training gewöhnt sich die Muskulatur an die effiziente Aufgabenverteilung. Auch hier spielt das Nervensystem eine entscheidende Rolle. Wichtig ist, dass im Falle der Stabilisatoren nicht isolierte Muskelgruppen zum Einsatz kommen, sonder immer das gesamte System (der Stabilisatoren) zum Einsatz kommt. Kein Körperteil bewegt sich aus diesem Grunde isoliert, sondern wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich alle Teile! Mit Hilfe von Yi wird der Motokortex stimuliert und von hier aus insbesondere die gelenkstabilisierenden Muskeln kontrahiert und wieder entspannt, während die Mobilisatoren jedoch möglichst entspannt bleiben. Dies hat gleichzeitig wieder einen positiven Effekt auf das propriozeptive Signalverarbeitungssystem. Dieses besteht aus entsprechenden Nerven- und Sinneszellen von Gehirn, Rückenmark, Muskeln und Gelenken. Die propriozeptiven Sinneszellen befinden sich in den Gelenkflächen, der Gelenkkapseln, Sehnen und Bändern und in den das Gelenk umgebenden Muskeln. Sie leiten Informationen über die Gelenkbewegungen an das Zentralnervensystem weiter. Sie messen laufend den Muskeltonus und die Winkelstellung der Gelenke. Im Zentralnervensystem werden darüber hinaus Reflexbildende Voraussetzungen geschaffen. Insbesondere entsteht dadurch ein "Muskelgedächtnis" für die Bewegungen und ein "automatischer" Bewegungsablauf wird ermöglicht.

Der entscheidende Faktor ist hier, dass die Präzision unserer Bewegungen davon abhängt, wie präzise diese vorher eingespeichert werden. Dadurch entsteht die Fähigkeit bspw. vieler Taiji-Meister, minimale, höchst präzise Bewegungen zu vollziehen. Hier zeigt sich auch die Bedeutung von Yi, der Achtsamkeit im "Einprogrammierungsprozess". Nach Meinung der klassischen Schriften muss auch die Taiji-Form 1000mal geübt werden, bevor man überhaupt an Kampfkunstanwendungen denkt. Durch Achtsamkeit werden damit die körperlichen Voraussetzungen geschaffen. Es folgt ein inneres Loslassen und Sinken der Körperstruktur und des Körperschwerpunktes, dadurch wird die Körperstatik erheblich verbessert. Man kann sagen, dass der Hauptteil der Yiquan-Übungen die Propriorezeption (Eigenwahrnehmung) des Körpers gezielt fördern.

 

 

 

 Shen

 

 

Was wir unter Shen zu verstehen haben, lässt sich am Besten anhand von zwei Geschichten illustrieren.

Von einem General namens Li Guang erzählt man sich noch heute eine rund zweitausend Jahre alte Geschichte: Mitten in der Nacht machte Li Guang einen Tiger aus. Er hob seinen Bogen und schoss auf den Tiger. Dann ging er hin, um sich seine Beute anzuschauen, doch er musste feststellen, dass der Tiger ein Stein war. Der Pfeil aber war in den Stein tief eingedrungen. Als es Tag war, wollte der General noch einmal in den Stein schießen, doch es gelang ihm nicht.

Eine andere Geschichte erzählt von einem jungen Mann, der 10 Jahre bei dem besten Schwertkämpfer weit und breit trainiert hatte. Schließlich hat der Meister ihm aufgetragen, sich auf die Reise zu machen und seine Kunst im Schwertkampf zu erproben. Nun gab es an seiner Technik zwar nichts mehr zu verbessern, dennoch verlor er jedes Mal. Ohne einen anderen Ausweg zu sehen, wollte er sich am Ende selbst töten. Da jedoch kam ihm ein Gedanke: Wenn er schon sterben sollte, so wollte er lieber durch die Hand des berühmtesten Schwertkämpfers sterben als Selbstmord zu begehen. So ging der junge Mann hin und forderte den berühmtesten Schwertkämper heraus. Lange standen sich die beiden Kontrahenten regungslos gegenüber, ohne das der Kampf begann. Schließlich gab der berühmteste Schwertkämpfer auf.  Der junge Mann war überrascht und fragte nach dem Grund. Da erhielt er zur Antwort: „ Du hast keine Angst, nicht einmal vor dem Tod. Wer solch großen Mut beweißt, der ist unbesiegbar.“

Ob sich tatsächlich alles so zugetragen hat, wie es diese beiden Geschichten beschreiben, ist hier gar nicht von Bedeutung. Entscheidend ist das Phänomen, das sie beschreiben: Es geht um die Qualität einer Handlung in einer Extremsituation, die den Überlebenswillen fordert und die nur möglich ist, weil man Zugang zu den eigenen, verborgensten Kräften gewinnt. In anderen Zusammenhängen kann man auch heutzutage immer wieder von solchen Phänomenen hören, die ungeahnte Kräfte freisetzen. Man denke etwa nur an eine Mutter, die ihr Kind unter einem schweren Wagen eingeklemmt findet, der es zu Tode zu quetschen droht, und die in dieser Ausnahmesituation die Kraft entwickelt, ihr Kind zu befreien – eine Kraft, die sie unter gewöhnlichen Umständen nie aufbringen würde. Das, was sich in solchen Situationen manifestiert, ist Shen. Oft wird Shen als Geist übersetzt, doch diese Übersetzung ist unzureichend. Shen steht vielmehr für ein begrifflich schwer zu fassendes Konzept. Shen ist sowohl unsichtbar als auch unberührbar und herrscht über alle unbewussten Körpervorgänge. Allerdings kann man es wahrnehmen. So lautet ein Sprichwort: „Shen manifestiert sich in den Augen“. Zudem kann man an Haut Gesicht und Ausstrahlung, an Körperhaltung und Bewegung eines Menschen erkennen, ob sein Shen stark oder schwach ist.

Obwohl Shen unwillkürlich und nicht direkt abrufbar ist, kann man es doch trainieren. Seit Tausenden von Jahren haben die Chinesen bemerkt, dass psychische Faktoren bei Kämpfen die Hauptrolle spielen. Über die entscheidenden Aspekte, die den Ausgang eines Kampfes bestimmen, heißt es: „der erste ist Mut, der zweite Kraft und der dritte Technik“. Shen ist in dieser Redeweise mit ‚Mut’ wiedergegeben worden, und sie zeigt deutlich den Vorrang von Shen gegenüber allem äußeren Wirken, gegenüber Kraft und Technik an. Deshalb sammelten Kampfkünstler Erfahrung mit Shen – mit dem Ziel, auf diese Weise ihre Fähigkeiten zu verbessern.

So erkannte man, dass Shen über psychisches Training entwickelt werden kann. Deshalb spricht man in China auch von Shen-Training, wenn es um psychisches Training geht. Auf der Suche nach einer effizienten Methode, um das Shen zu stärken, stießen viele Kampfkünstler auf die Praxis des Chan-Buddhismus. In der Tang Dynastie (618-907) war die Hochzeit dieser Entwicklung, Kampfkunst und Clan-Buddhismus zusammenzuführen. Seit dieser Zeit sind viele gute Kampfkunststile mit dem Clan-Buddhismus verbunden. Trainiert wurde dabei oft im Stehen, was als Stehendes Chan (Li Chan)bezeichnet wurde. Hier ist die Wurzel der Stehübungen des Zhanzhuang zu finden.

Damit Shen eingesetzt werden kann, braucht es einen starken äußeren oder inneren Reiz. Deshalb setzt man zu Übungszwecken die notwendigen Reize durch Yi-Aktivität (s. nächsten Paragraphen). Entsprechende mentale Vorstellungsbilder finden hier ihre Anwendung: Indem wir uns vorstellen, wir stünden wie ein Gigant auf der Erde, schalten wir die gewöhnliche Bezogenheit auf unser kleines Ego aus und gehen weit über es hinaus. Körper und Geist vergrößern wir, dehnen sie in der Vorstellung ins Grenzenlose hinein aus. Wir sind erfüllt von Kraft und Energie. Wir sind von einem Willen beseelt, der Berge und Flüsse überwinden kann. Wir sind wie das Meer, und das Meer nimmt alles auf, was zu ihm kommt. Wir sind auch wie der Himmel, und der Himmel vereinigt alles in sich, worüber er sich erstreckt. Durch regelmäßiges Training mit solchen und ähnlichen Vorstellungen wird Shen abrufbar. Das Shen-Training verbessert unseren psychischen Zustand und stärkt die Willenskraft, den Kampfgeist und das Durchhaltevermögen.

 

 

 

 

 

Wang Xiangzhai

Das Dao der Kampfkunst stärkt die Lebenskraft eines Volkes, und ist auch Wurzel der Wissenschaft und Philosophie und Lebensader der Gesellschaft. Seine Aufgabe ist die Bildung des Herzens, die Stabilisierung des Geistes und Stärkung des Körpers, also das menschliche Potential im besten Sinne auszuschöpfen. Der Lernende wird Gesund in Körper und Geist, zum Nutzen von Staat und Volk. Schulen, die nur Kämpfen, sind einem Irrglauben verfallen und folgen nicht dem Dao der Kampfkunst. Solches Tun wirkt ist ein Gift, dessen Schaden alle Grenzen übersteigt, und dessen Treiben ich nicht tatenlos begegnen kann.

In über 40 Jahren der Beschäftigung mit der Kampfkunst habe ich nach den wahren Prinzipien gesucht, habe die Theorien studiert, in der Praxis überprüft, und so das Wahre von dem Falschen unterscheiden gelernt, und ein tieferes Verständnis der Kampfkunst gewonnen. Ich habe eine neue, besondere Kampfkunst entwickelt, die die Essenz meiner Erfahrung ausdrückt. Meine Freunde haben mit dieser Kampfkunst ein gutes Gefühl und finden es angenehm, sie zu üben, und Ihr sogar den Namen "Vollkommene Kampfkunst" geschenkt, was ich nicht ablehnen konnte.Diese Kampfkunst legt Wert auf die Benutzung des Geistes, der Vorstellung, und der natürlichen Kraft und Bewegung. Einfach gesagt, ist das Ziel die Harmonie zwischen Mensch und Umgebung. Konkreter gesagt, basiert die Theorie auf den Naturgesetzen, aus denen Grundprinzipien abgeleitet werden: Der Geist ist rund, aber die Kraft gerade, die Haltung rund, aber die Willenskraft gerade. Der Körper wechselt zwischen Positionen und verharrt nicht. Dies bildet die Fähigkeit heraus, im Kontakt schnell zu reagieren.Das alleinige Üben beinhaltet immer alle möglichen Reaktionen, in der Anwendung reagiert man spontan und natürlich auf den Angriff.

Viele andere Kampfkünste beschäftigen sich mit Formen und festen Methoden, und verwenden wilde Kraft. Daraus haben sich viele seltsame und komplizierte Bewegungsfolgen entwickelt, sowie der Einsatz von extremen Methoden des Kraft- und Ausdauertrainings. Das ist mit meiner Kampfkunst nicht zu vergleichen.So wird falsch unterrichtet und falsch gelernt, und man ist noch stolz darauf. Und das, obwohl solcherlei Training die Gesundheit schädigt, indem das Nervensystem und der Atmungs- und Bewegungsapparat über gebühr belastet werden bis hin zum Zustand der körperlichen Behinderung. Wie kann man so den Auftrag des Dao der Kampfkunst erfüllen? Ich kann zwar nicht behaupten, meine Kampfkunst sei die beste, aber es gibt keine andere die ihr ähnelt. Wie auch in anderen Wissenschaften lebt die Kampfkunst von ständigem Fortschritt in der Theorie und Übungspraxis.

Ich bin überzeugt, dass das Üben der Kampfkunst die körperliche und geistige Gesundheit in vieler Hinsicht verbessert. Es stärkt die Atmung und den Kreislauf sowie die Versorgung des Gehirns usw. und somit die natürliche Kraft. Durch Übung erreicht man eine Stufe in der man im Moment des Herstellens von festem Körperkontakt den Gegner wegschleudern kann. Die Übungsmethoden werden im folgenden erläutert, wobei der Text sich eher an schon übende wendet und nicht für die Veröffentlichung gedacht ist. Ich bin schon alt und viele haben um eine Niederschrift gebeten. Ich kann nicht alle Dinge ausführlich erklären, sondern vieles nur andeuten, dennoch soll dieser Text beim Verständnis meiner Kampfkunst helfen. Ich bin dankbar für die Möglichkeit anderen eine Hilfe beim erlernen der Kampfkunst zu sein und hoffe, das die Studierenden offen und bescheiden und mit anderen zusammen lernen, und so der Gesellschaft einen Dienst leisten und das Niveau der Kampfkünste heben.

 

Text zur Verfügung gestellt mit freundlicher Genehmigung von Jumin Chen

 

 

 

 

 

 

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